Der Geruch von Kerosin in der Luft, das Schlack-schlack der Fluganzeige, die eilig sich bemüht, Abflüge und Ankünfte zu aktualisieren; Wartende, die ihre Verwandten und Freunde abholen; Reisende, die es – Gott allein weiß, warum – in aller Herren Länder zieht und die in der Art zu reisen so verschieden sind wie die Gründe und Ziele ihres Unterwegsseins. Und ist es nicht das größte Vergnügen, sich für jeden einzelnen eine Geschichte auszudenken, über sein Woher und sein Wohin?

Ich habe Reisen in jeder Form immer geliebt, doch am meisten noch immer das Fliegen; und kann man gerade selbst nicht verreisen, ist der Flughafen noch immer der schönste Ort der Welt, nicht wahr?

Natürlich: Das Schlack-schlack gehört im digitalen Zeitalter längst der Vergangenheit an; und doch gibt es Flughäfen, die es geschafft haben, den Charme der Vergangenheit in die Moderne hinüberzuretten. Sollte ich in dieser Disziplin eine Goldmedaille verleihen, so ginge sie übrigens zweifellos an den Flughafen Moskau-Scheremetjewo (den wir hier auf dem Bild sehen).

Über das Reisen 2021 Moskau Sheremetjevo

Auch auf allerlei andere Art –  nicht bloß durch den technischen Fortschritt allein – versucht man, uns die Lust am Fliegen zu rauben. Besonders lästig sind die Zeitgenossen, die sich um ihren „Ökologischen Fußabdruck“ sorgen. Und, das ist das Allerlästigste, nicht nur um ihren eigenen, sondern vor allem auch um unseren. Doch so lästig dies Gefasel auch ist: Es lässt mich im Kern doch herzlich unbeeindruckt. Ich lebe – und werde es bis an mein seliges Ende – nach dem Motto, dass der Mensch schließlich seinen Fußabdruck in der Welt hinterlassen muss, und sei es eben ein ökologischer.

Doch zurück zur Lust am Fliegen. Denn das Vergnügen erschöpft sich nicht in der allgemeinen Atmosphäre eines Aufbruchs in fremde Welten, im Erfinden von biographischen Notizen für Fremde, denen man nie wieder begegnen wird, im Geruch von Kerosin oder dem Erkunden neuer, zukünftiger Ziele mit exotischen Namen auf den Anzeigetafeln.

Nein, es ist diese Art von Zeitreise, die das Fliegen von allen anderen Formen des Reisens unterscheidet. Man steigt an einem Ort in ein Flugzeug ein und wenige Stunden später an einem vollkommen anderen wieder aus: in einer anderen Welt, mit anderem Geruch, anderer Luft, anderen Farben und Formen – und wir werden der Romantik halber ausblenden, dass uns all überall die Goldenen Bögen und die koffeintrunkene Sirene bereits mit weitgeöffneten Armen erwarten.

Deicing a plane in Moscow
Nein, wir werden stattdessen all das andere wahrnehmen, das Andere mit großem A, das Fremde und Exotische. Und wir fühlen vielleicht dabei auch deshalb so wohl, weil man sich nirgends so zuhause fühlt, wie dort, wo das Gefühl des Fremdseins der natürliche und gewissermaßen angemessenste Aggregatzustand ist.

Die Reise, die Anreise, ist dabei eine Art rite de passage zwischen den Welten, wobei das Flugzeug eine besondere Art des Non-Lieu, des Nicht-Ortes, ist – eine Anderswelt des Dazwischen. Im Flugzeug sein bedeutet Gefangensein zwischen den Welten. Es gibt kein Entrinnen mehr, die Transition wird erfolgen. Zugleich hat das Flugzeug keine Welt: Es ist buchstäblich suspendiertes Sein, als würde die Zeit stillstehen, dort, wo nur das gleichmäßige Brummen der Motoren und die unter einem vorbeiziehenden Wolkenfelder überhaupt eine Idee von Zeit und Ort zu vermitteln vermögen.

Aeroflot airplane

Natürlich sind auch Autos, Eisenbahnen und Schiffe in diesem Sinne Anderswelten und Nicht-Orte; doch von einer viel bescheideneren Dimension. Den Unterschied macht dabei nicht allein der Grad des Ausgeliefertseins an den „lieu de passage“. Viel entscheidender ist die zeitliche Komponente. Denn nirgends ist der mögliche Distanzgewinn im Verhältnis zur Zeit des Übergangs so groß. Ja, ein Teil der Lust am In-die-Fremde-Gehen erwächst auch aus der Geschwindigkeit, mit der dies möglich ist.

Doch warum reisen wir überhaupt, warum der Wille sich einem solchen Übergangsritus auszusetzen? Was zieht uns irgendwohin?

Nun, Menschen reisen aus den verschiedensten Gründen, und manche davon so banal, dass wir hier nicht weiter davon sprechen wollen, ist das Banale ist nur selten von poetischem Wert.

Manche reisen, um Menschen zu treffen und fremde Kulturen kennenzulernen, um die Architektur weitentfernter Länder zu studieren, um Berge zu besteigen oder Canyons zu durchwandern. Mit anderen Worten: Sie reisen, um fremde Kultur- und Naturlandschaften zu erleben.

All das ist mir zweifellos nicht fremd. Doch bin ich doch im Kern immer ein Träumer gewesen – und die Gründe, die mich an einen Ort ziehen, können geringfügig, ja geradezu nichtig sein: der Klang eines Städtenamens; eine geliebte Person, die an diesem Ort Zeit verbracht hat; ein Bild, das ich als Kind einmal in einem Buch entdeckt habe, ein Lied oder ein Roman, der an diesem Ort spielt – genügt bereits, um in mir den Wunsch nach einer Reise aufkeimen zu lassen. Die so genannte „Sehenswürdigkeit“ hingegen lässt mich meistens eher kalt. Ich war etwa zehnmal in Paris, ohne den Moulin Rouge gesehen zu haben, auch, wenn ich vermutlich tatsächlich daran vorbeigelaufen bin. Ich hätte ihn bis heute nicht gesehen, hätte meine damalige Reisebegleitung nicht darauf beharrt, dass das „man das doch gesehen haben muss“. Was des Sehens würdig ist, entscheidet meine Intuition, die mich durch die Straßen zieht – und mein Bewusstsein, dass etwas eher als etwas anderes durch meine Wahrnehmung auszeichnet. Was davon in der Erinnerung bleibt, ist die eigentliche Sehenswürdigkeit.

Umgekehrt sind es Gerüche, Szenen, Gedanken, die ich an Orten wahrgenommen, erlebt, gehabt habe, die für immer die Erinnerung an diesen Ort prägen. Mein nahezu absolutes Gedächtnis speichert alle diese Erlebnisse wie einen Film, von den ersten Erinnerungen in meinem zweiten Lebensjahr bis heute; aber es ist ein synästhetisches Gedächtnis, kein faktisches. Ich kann mir nicht merken, wann wo welche Schlacht stattgefunden hat, wie hoch ein Gebäude war oder wie sich ein Stadtteil historisch entwickelt hat – aber ich weiß, wie es dort roch, was ich in einem Café gegessen habe, ich spüre den Geschmack des Kaffees auf meiner Zunge… und erinnere mich dann auch, worüber ich mit meinem Gegenüber bei diesem Geschmack gesprochen habe oder welche Zeitung der Mann am Nachbartisch gelesen hat.

Aeroflot plane Sheremetjevo airport winter 2021-22

Da mir Fakten weit weniger im Gedächtnis bleiben, werde ich auch leicht ungeduldig, wenn mir jemand wie aus einem Geschichtsbuch von Fakten plaudert oder ein Programm objektiver Sehenswürdigkeiten zusammenstellt, das es abzuarbeiten gilt. Kaum etwas, nebenbei bemerkt, finde ich so lästig wie Führungen, bei denen mich der Führer mit seinem akustischen Hintergrundrauschen von den wesentlichen Sinneseindrücken bloß ablenken kann. Was ich an Fakten wissen möchte, lese ich einem Buch nach, wo mir dieses Wissen bei Bedarf jederzeit aufs Neue zugänglich ist und sein Erwerb keine wertvolle Zeit vor Ort stiehlt…

Sollte ich es also zusammenfassen, dann ist Reisen ist für mich vorrangig ein assoziatives, synästhetisches Vergnügen, eine Lust am Fremden und am Fremdsein. Ich schreibe darum auch hier – das habe ich an anderer Stelle bereits gesagt – nicht in erster Linie über andere Kulturen oder Dinge, die man irgendwo „gemacht haben muss“. Ich beschreibe eigentlich bloß die augmentierte Realität in meinem eigenen Kopf; denn diese Erlebnisse der Innenwelt, also das höchst subjektive Erleben, ist das, was mich am Reisen mit Abstand am meisten beglückt. Ich mag nicht allzu gern mit der Realität belästigt werden. Und vielleicht geht das ja dem einen oder andere auch so, und er lässt sich gerne meine ganz buchstäblich bewegte Parallelwelt entführen.

Randnotiz für enttäuschte Leser: Für alle, die sich mehr für das Ethnographische (oder generell für Fragen von Kultur, Kulturphilosophie und Kulturwissenschaft) interessieren, als für poetische Reisebeschreibungen gibt es übrigens „The Ethnographic“. Für alle, die die beste Kneipe in Stadt X, die 10 wichtigsten Sehenswürdigkeiten oder Empfehlungen fürs nachhaltige Reisen suchen, habe ich nichts im Angebot; aber der Markt ist hinreichend gesättigt, so dass sich wohl ein passendes Angebot an einem anderen Orte finden lassen dürfte. An einem anderen Ort, der weit weg ist. Ganz weit weg…