2020 habe ich den Entschluss gefasst, nach Russland auszuwandern. Doch warum gerade Russland? In diesem ersten Beitrag des „West-östlichen Divans“ erzähle ich, was es mit meiner Russlandliebe auf sich hat…

Von Weltzeituhren, Paralleluniversen und fremden Lettern

Ich bin gewissermaßen in der Zeitschriftensektion der Bibliothek des HWWA, des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs, aufgewachsen. Also, eigentlich war das ganze HWWA meine zweite Heimat. Zunächst einmal war da die Weltzeituhr, im schlanken 60er-Jahre-Design: Ist es nicht phantastisch, dass zu ebendieser Zeit am anderen Ende des Globus, ein ganz anderer Mensch in einer ganz anderen Welt lebt und gar nichts weiß von dem, was sich gerade hier abspielt? Wo gerade nicht einmal Tag, sondern tiefe Nacht ist? Und dass an jedem Ort in dieser Welt von jedem einzelnen Menschen gilt! Diese Weltzeituhr, darf man wohl sagen, versinnbildlichte mir auf eindringlichste Weise die Vielfalt dieser Welt … und dass wir gewissermaßen alle in Paralleluniversen leben.

Vom Eingang nach rechts waren die Paternoster, in denen man doch nie über Kopf fuhr; dann war da der Getränkeautomat im Erdgeschoss am Fuß der Treppe, der einen für die kindliche Zunge geradezu phantastischen Kakao ausspuckte; der nette Herr am Eingang zu Bibliothek, der mir immer die Überreste des Materials überließ, das er zum Einbinden der Bücher verwendete; der Herr B. an der Ausleihe, der mit ein bisschen unheimlich war und der mich immer Julchen nannte; die korpulente Frau K. mit den blonden Löckchen und Frau J., die sehr, sehr dünn war und die man fragen musste, wenn man die International Financial Statistics haben wollte.

Dann war da noch – das war ein sehr großes Abenteuer – die Abteilung, in die man über eine kleine Treppe am Ende des Bibliothekssaals gelangte, wo man auf Din A4-Papier geklebte Zeitungsausschnitte aus der ganzen Welt zu bestimmten Themen bekommen konnte.

Foto: Statue von Wladimir dem Großen, Moskau. © Ann-Kristin Iwersen 2017.