Someplace Far Away – Hong Kong (2007)

Sie werden, geneigter Leser, bemerken: Bisweilen schreibe ich über einen ersten Besuch an einem Ort, bisweilen sind die Beiträge eine Summe über bisherige Besuche – und somit eher Berichte aus der Erinnerung und über die Erinnerung, über den Wandel und über das Konstante. In Hong Kong war ich insgesamt vier Mal – 2007 für zwei Monate, 2011 für einen Monat und dann noch in 2017 und 2018 jeweils für ein paar Tage. Ich kann zusammenfassend sagen: Ich liebe die Stadt nicht, aber ich liebe sie.

Ich liebe die Stadt nicht, aber ich liebe sie.

Irgendwann, es muss so um das Jahr 2014 herum gewesen sein, war ich bei meinen Eltern und der Fernseher lief. Ich war im Badezimmer und hört nur entfernt den Ton; auf einmal vernehme ich ein vertrautes Schrillen. Es braucht ein paar Sekunden, bis ich realisiere, was ich höre: das Geräusch der Hongkonger Fußgängerampel. Und dann, im Bruchteil nur einer Sekunde, erstand für mich eine ganze Welt aus der Erinnerung wieder auf. 

Hoch Kong 2018-1

Das Gefühl der feuchten Luft auf meiner Haut, der Geruch in den Straßen und in den MTR-Stationen, Fährfahrten durch den Victoria Harbour, kuriose Erlebnisse auf den Outer Islands. Nein, wirklich, die Stadt ist nicht schön. Es gibt wirklich kaum attraktive Architektur; die schönsten Beispiele stammen noch aus der Kolonialzeit und derer gab es schon 2007 nur noch wenige. Es ist laut und voll und unübersichtlich und für jemanden, der nichts essen mag, was aus dem Wasser kommt, wirklich eine Katastrophe, denn selbst noch das Gemüse wird in Fischbrühe gekocht. Trotzdem: Wenn ich mich zurückerinnere, dann vermisse ich die Stadt, und mehr als nur ein bisschen.

Da war auch der Flughafen. Und da war Hamburg, der Hafen – und Freddy Quinn.

Und da war Hamburg, der Hafen – und Freddy Quinn. Ich muss also ein wenig weiter ausholen.

Der Hamburger Hafen war für einen großen Teil meiner Familie die Erwerbsgrundlage; das war für mich schon als Kind natürlich eher fern, denn auch in den 1980er Jahren war der Hamburger Hafen nicht mehr das, was er einmal war. Aber ich bin mit den Geschichten und Anekdoten aufgewachsen, den Geschichten von Menschen, die wirklich daher kamen und kannten, wovon Hans Albers und Freddy Quinn sangen, was im Ohnsorg-Theater gespielt wurde. Die die Realität kannten und doch der romantischen Verklärung, die Hafen und Seefahrt in Liedern, in Filmen und auf der Bühne erfuhr, zugeneigt waren – auch, weil bei aller Romantisierung immer auch viel Wahres darin steckte. Für mich waren die Seefahrt und der Hafen zu einem Symbol geworden – für Abenteuer in fremden Ländern, Briefe aus der Ferne mit exotischen Briefmarken, für von der salzigen Meeresluft strähnige Haare im Wind, Mitbringsel für die Daheimgebliebenen… Freiheit, zu guter Letzt. (Ich sollte genauer bestimmen, welche Freiheit es ist, die ich meine, aber ich werde das an anderer Stelle nachholen.)

Wenn ich ehrlich bin: Ich kann es der Welt noch immer nicht verzeihen, dass sie dieses glorreiche Schiff namens „Abenteuer und Freiheit“ in einem Ozean der Globalisierung hat sinken lassen. Jedenfalls waren alle diese populärkulturellen, norddeutsch-hanseatischen Erzeugnisse das, was sicherlich am nachhaltigsten meine Identität geprägt. Ich habe mich nie besonders deutsch gefühlt, aber immer norddeutsch. Ich habe eine norddeutsche Welt gelebt und geliebt, die eigentlich schon am Aussterben war, als ich geboren wurde. Heute ist davon kaum noch etwas übrig. Doch zurück zu Hong Kong – der Weg dorthin ist weit, ich muss um Geduld bitten.

Es gibt ein Lied von Freddy Quinn, „Unter fremden Sternen“, aus dem beinahe gleichnamigen Film „Freddy unter fremden Sternen“ aus dem Jahre 1959; die meisten kennen das Lied aber eher unter dem Namen „Fährt ein weißes Schiff nach Hong Kong“:

„Es kommt der Tag, da will man in die Fremde
Dort, wo man lebt, scheint alles viel zu klein
Es kommt der Tag, da zieht man in die Fremde
Und fragt nicht lang: Wie wird die Zukunft sein?

 Fährt ein weißes Schiff nach Hong Kong
Hab‘ ich Sehnsucht nach der Ferne
Aber dann in weiter Ferne
Hab ich Sehnsucht nach zuhaus‘
Und ich sag zu Wind und Wolken:
Nehmt mich mit, ich tausche gerne
All die vielen fremden Länder
Gegen eine Heimfahrt aus“

Ich glaube nicht, dass es ein anderes Lied gibt, das so gut mein Gefühl des Reisens ausdrückte wie dieses; und für mich hat es Hong Kong auf ewig mit einem weißen Schiff verbunden, mit dem ich mich nur allzu gern auf den Weg an diesen weitentfernten Ort gemacht hätte.

 

Hongkong 2017

Aber natürlich muss ich am Anfang anfangen. Hong Kong stand schon mindestens seit den frühen 90er Jahren auf meiner Reiseliste; damals flogen wir regelmäßig in die USA und nach Kanada. Das hatte mit der Arbeit meiner Eltern zu tun, mit Verwandtschaft und günstigen Flugpreisen, aber auch mit einer echten Zuneigung zu diesem Subkontinent. In den allermeisten Fällen gab es keine Direktverbindungen von Hamburg – es ging also meist über Frankfurt, Amsterdam oder London. Und auf den dort – damals noch nicht digitalen – Anzeigetafeln war es vor allem ein Ziel, das mich besonders ansprach: Hong Kong…!

Es war aber keine unverbundene, spontane Verbundenheit zur irgendwie abstrakten, fernen – damals noch – englischen Kolonie. Da war auch der Flughafen. 

Doch dann gab es ja auch noch diesen legendären Flughafen Kai Tak, bei dem man beim Anflug beinahe die Hochhäuser von Kowloon berührte. Das Abenteuer dieses Anflugs blieb mir leider verwehrt, da der Flughafen bereits 1998 geschlossen wurde, 9 Jahre vor meiner ersten Reise nach Hong Kong. Mit ein bisschen Glück und Geld schaffe ich das mit dem weißen Schiff vielleicht am Ende doch noch… es müsste natürlich ein Containerschiff sein. Ich fürchte auch, es gibt keine Garantie für die Farbe des Schiffes. Aber zur Not fahre ich auch mit einem schwarzen oder rostbraunen Schiff nach Hong Kong. Man muss flexibel bleiben.

Wie dem auch sei, der Weg nach Hong Kong nahm für mich noch einen Umweg über Florenz. 2004 war ich zu einem Sprachkurs in Florenz; dort lernte ich Ellen kennen, eine Hong Kong-Chinesin, die mich im darauffolgenden Jahr in Deutschland besuchte; 2007 erfolgte dann mein Gegenbesuch in Hong Kong.

Bei meinem ersten Aufenthalt war ich in einem katholischen Jugendzentrum auf Hong Kong Island untergebracht, in unmittelbarer Nähe der Station Sai Wan Ho auf Hong Kong Island. Es ist erstaunlich, wie viel umständlicher alles damals noch war: Als ich ankam, hatte ich zunächst keine Möglichkeit, mit Deutschland – oder überhaupt irgendwie – zu kommunizieren. Meine deutsche SIM-Karte funktionierte dort gar nicht; es gab noch kein WLAN, und ein Priester, der eigentlich krank war und den meine Freundin aus dem Krankenbett herbeitelefoniert hatte, arbeitete mehrere Stunden unermüdlich, bis er endlich die LAN-Verbindung auf meinem PC zum Laufen gebracht hatte. Das Internet war selbst für damalige Verhältnisse extrem langsam: YouTube-Videos schauen war eine Herausforderung. 

Tsim Sha Tsui 2019

Doch die Unterbringung war einfach, aber völlig in Ordnung. Wäre da nicht die Sache mit der Schlange gewesen.

Man muss dazu sagen, dass das Zimmer ein Mehrbettzimmer mit einem angeschlossenen eigenen Badezimmer waren, und von diesen Zimmern gab es auf dem Flug mehrere; regelmäßig kamen Gruppen von Jugendlichen hierher, um an Events oder Kursen teilzunehmen, meistens kamen sie von den „Outer Islands“, den Hong Kong vorgelagerten kleinen Inseln. Doch das ist nur eine Randnotiz; wichtig ist vielmehr: Eines Tages öffnete ich die Tür – und sah gerade noch, wie etwas Kleines, sich Schlängelndes unter der Tür des Nachbarzimmers verschwand. Unter der Tür, weil nach irgendeinem geheimnisvollen Gesetz Türen in chinesischen Häusern scheinbar den Fußboden stets um mindestens einen Zentimeter verfehlen müssen. (Ich glaube, das ist etwas, was sich bis heute nicht geändert hat.)

„It was probably lizard“, konstatierte Bo. „Der are no snacks in Hong Kong.“

Darüber, was ich da gesehen hatte, bestand gar kein Zweifel: Es war eine kleine Schlange gewesen, wahrscheinlich ein Jungtier, vielleicht zwanzig Zentimeter lang. Da ich mich mit Schlangen nicht besonders auskenne, sie aber erst einmal unsympathisch finde, überlegte ich, wie ich das Vieh nun davon abhalten konnte, in mein Zimmer hinüberzuschlängeln, denn wer wusste schon, wie abenteuerlustig so ein junges Schlangending so ist. Also stopfte ich erstmal notdürftig den Spalt unter der Tür mit Küchenpapier zu, und ging zu Bo, der mein Ansprechpartner für alle Probleme in Sachen Wohnung war. Ich erklärte ihm also, dass ich eine Schlange gesehen hätte, die sich unter der Tür ins Nachbarzimmer geschlängelt hätte. Bo schaute mich an, wie man einem besonders unverständigen Dreijährigen ansieht, dem man etwas zum zehnten Mal erklärt.

„Der are no snacks in Hong-Kong“, konstatierte er. Nun ist das offenkundig sowieso falsch – es gibt sehr wohl Schlangen in Hong Kong, und gar nicht mal so wenig -, aber etwas wovon dennoch viele Einwohner, wie ich feststellen musste, fest überzeugt sind. Vielleicht beruhigt es die Nerven. In jedem Fall erklärte ich erneut, dass es sich aber nunmal um eine Schlange gehandelt habe. Tatsächlich war das auch überhaupt nicht abwegig, denn in den Nachbarräumen war gerade eine Gruppe Kinder von den Outer Islands eingetroffen. Vielleicht hatte sich das kleine Vieh einfach irgendwo in einem Rucksack versteckt. In jedem Fall schaute mich Bo leicht genervt an und fragte: „Did it have lecks?“ Nein, erklärte ich, es hatte keine Beine, es war halt eine Schlange und hat sich auch so bewegt. Er glaubte mir kein Wort, ging dann aber schließlich mit mir nach oben und schaute im Nachbarzimmer nach. Leider fanden wir das Corpus delicti nicht wieder. „It was probably lizard“, konstatierte Bo. „Der are no snacks in Hong Kong.“ Da ich nicht durchdrang, tat ich in meiner Verzweiflung das einzig Mögliche: Ich lebte die nächsten sechs Wochen mit Küchenpapier unter meiner Tür, das ich jedes Mal, wenn ich den Raum verließ, von außen wieder drunter stopfte, und von innen, wenn ich zurückkam. Zur Sicherheit schrieb ich mit unsicheren chinesischen Lettern einen Hinweis an die Reinigungskräfte: „Papier bitte keinesfalls unter der Tür rausnehmen!!! Vielen Dank!“ Das war irgendwie ein wenig unpraktisch, aber jedenfalls sah ich die Schlange nicht wieder und schlief halbwegs ruhig.

HK Airport Ferry Terminal

Fünf Minuten vor dem Treffen, ich war schon vor Ort, rief sie mich an, um mir genaue Richtungsanweisungen zu geben: „Te-ka-dee-es-sa-ka-le-taah-too-crown-flo-aaah.“

Das mit dem Englisch war aber auch so eine Sache. Ich war zwar in der Lage, fast jeden US-Südstaatler ohne Zähne zu verstehen… aber mit dem chinesischen Akzent wurde ich nur sehr langsam warm. Einmal führte ich ein Interview mit einer Informantin, mit der ich mich in einem Einkaufszentrum treffen sollte. Fünf Minuten vor dem Treffen, ich war schon vor Ort, rief sie mich an, um mir genaue Richtungsanweisungen zu geben: „Te-ka-dee-es-sa-ka-le-taah-too-crown-flo-aaah“, erläuterte sie. Dann ging es weiter, dort würde ich dann links und wieder rechts an irgendeinem Geschäft vorbei zu unserem Treffkunkt gelangen. Sehr gut, nur, wo mein Weg seinen Anfang nehmen sollte, verstand ich beim besten Willen nicht. Auch  das dritte Nachfragen brachte keine Erleuchtung – und so stand ich dann reichlich hilflos in dem gigantischen Einkaufszentrum und wartete auf eine Inspiration, wohin ich nun eigentlich gehen sollte. Nach einigen Minuten übermittelte mein Gehirn dann doch noch eine passende Übersetzung: „Take the escalator to ground floor.“

Die Interviews, die ich leider nie für wissenschaftliche Zwecke nutzte, waren wahnsinnig interessant. Eigentlich ging es darin um chinesische Christen und das Zusammenfließen des christlichen Glaubens mit traditionellen chinesischen Glaubensüberzeugungen. Zum Beispiel praktizierten alle meine Informanten weiter den traditionellen Umgang und die Fürsorge für die Ahnen, und auch der Glaube an lokale Gottheiten und Geister parallel oder vermengt mit christlichem Glauben stellte kein Problem dar. Meine eigentliche Forschungsfrage war eine abstraktere und übergeordnete, die hier nichts zur Sache tut. Doch in jedem Fall hatte ich viel Gelegenheit, etwas über den Glauben der Chinesen und insbesondere der christlichen Chinesen in Hong Kong zu erfahren.

 

Es war ganz ohne Zweifel dasselbe Haus gewesen. Wenn ich zuvor die Existenz von Geistern oder Energien angezweifelt hätte – danach war ich mir sicher, dass sie existieren…

Ein besonders eindrückliches Erlebnis hatte ich bei einem Aufenthalt auf Cheung Chau, eine kleinere der vorgelagerten Inseln, die sehr beliebt als Naherholungsziel ist, vor allem wegen seines Strandes. Ich hatte mir da natürlich anderes drunter vorgestellt: Der Strand war, unter lauter Menschen, kaum noch zu erkennen und ohnehin geradezu winzig. Sowieso war mir in der feuchten Julihitze nicht unbedingt nach Baden und Strand, also erkundete ich die ansonsten wirklich ganz süße Insel.

Da ich zu dem Zeitpunkt noch plante, für weitere Forschungen nach China zu kommen, dachte ich, es wäre nicht schlecht, vielleicht nach einer Unterkunft Ausschau zu halten. Denn insgesagt war es hier auf der Insel natürlich viel ruhiger als mitten in der Stadt. Außerdem roch es weniger nach getrockneten Meeresfrüchten. Ich schlenderte also durch die kleine Gassen und tatsächlich entdeckte ich ein Schild, auf dem Ferienwohnungen angeboten waren. Neugierig ging ich das Sträßchen entlang, um nach dem Haus zu suchen. Lange suchen musste ich nicht, denn nach weniger als 100 Metern fing mich eine etwa 60jährige Frau ab, die in mir zielsicher eine Touristin ausgemacht hatte. Ich sprach kurz mit ihr, und sie bot mir an, mir die Wohnung zu zeigen.

Was ich dort sah, kann ich kaum in Worte fassen. Nicht, dass etwas grundlegend Furchtbares an der Wohnung war… sie war ein wenig verwohnt, ja, aber nichts Ungewöhnliches. Es gab eine Terrasse, die direkt über dem Meer lag, mit einem wunderschönen Ausblick. Trotzdem konnte ich es in der Wohnung kaum aushalten. Etwas furchtbar Bedrückendes war darin; die Wohnung fühlte sich an, als sei sie ein abrupt unterbrochener Prozess, aber auf eine sehr unheimliche Art. Etwa, wie wenn man die Bilder aus Tschernobyl sieht, wo das Kinderspielzeug noch in den Zimmer liegt, aber alles ist seit Jahren verlassen… so etwa war die Atmosphäre. Ich bedankte mich höflich und konnte gar nicht schnell genug fortkommen. Ich blieb noch eine Weile auf der Insel und lief umher, aber Freude wollte nicht mehr aufkommen. Erst der Wind auf der Fährfahrt zurück blies mir etwas die Schwere aus der Seele.

Am nächsten Tag berichtete ich meiner Freundin von diesem Erlebnis. Sie fragte genau nach, wo sich die Wohnung befunden hatte. „Gut, dass Du gegangen bist“, erklärte sie mir dann. „In dieser Wohnung hat sich vor zwei Jahren ein Paar das Leben genommen, sie sind von der Terrasse gesprungen.“ Sie zeigte mir einen alten Zeitungsartikel. Es war ganz ohne Zweifel dasselbe Haus gewesen. Wenn ich zuvor die Existenz von Geistern oder Energien angezweifelt hätte – danach war ich mir sicher, dass sie existieren…