Geschichtendichten
Und schließlich war da die Zeitschriftenabteilung, wo meine Eltern nach Erledigung aller anderen Arbeiten für gewöhlich die aktuelle deutsche und internationale Presse lasen. Alles war still, man hörte nichts außer dem Rascheln der Zeitungsseiten. Eine beruhigende, schläfrige Langeweile stellte sich ein. Ich beobachtete die Menschen, die aus aller Herren Länder kamen und die Zeitungen zu lesen, die ebenfalls aus aller Herren Länder kamen. Viele Leser kamen regelmäßig, man kannte sich. Neben dem Studium der Gesichter der Welt lud dies auch zum Studium der Schriften der Welt ein. Die wilden Kringel des Arabischen, die seltsam geometischen Buchstaben des Hebräischen, die ordentlichen Quadrate des Chinesischen und das Japanische, das sich immer nicht recht zu entscheiden können schien, ob es nun ordentlich quadratisch sein wollte oder wild drauflos krakeln. Und dann waren da die kyrillischen Buchstaben, die es mir besonders angetan hatten. Ich verbrachte einen Großteil der wohltuenden Langeweile damit, auf die Buchstaben der Titelseite der „ПРАВДА“ (was da stand und was das hieß, wusste ich, das hatte mir mein Vater erzählt) zu starren und mir Geschichten auszudenken, die sich hinter den geheimnisvollen, schönen Buchstaben verbergen konnten.
Das war sicherlich ein wichtiger Schlüssel zu meiner Russlandbegeisterung. Und dann waren da noch die Freunde meiner Eltern, die aus jenem geheimnisumwobenen Land im Osten kamen. Die Frau hatte am selben Tag Geburtstag wie ich – das verbindet – und war einer der nettesten und humorvollsten Menschen, die ich kannte. Zu einem Geburtstag, ich glaube, es war mein achter, schickte sie mir eine Geburtstagskarte auf der stand: „An diesem Tag haben ganz besondere Menschen Geburtstag“. Ich fand das sehr lustig.
Zwiebeltürmchen und Zarentöchter
Schließlich war da noch die Time Life-Reihe „Kinder entdecken“. Im Band „Sehenswürdigkeiten der Welt“ fand sich auch eine Doppelseite zum Roten Platz in Moskau, mit einer großen Abbildung der Basiliuskathedrale mit ihren bunten Zwiebeltürmchen … spätestens da war es restlos um mich geschehen und ich verlangte, dass wir gewissermaßen augenblicklich dorthin reisten. Meinen Eltern war das aber Anfang der 90er Jahre alles ein bisschen zu anstrengend und umständlich.
Trotzdem blieb meine Begeisterung für Zwiebeltürmchen und Zaren, die durch die Unerreichbarkeit als Reiseziel eigentlich mehr gestärkt als geschmälert wurden. Wie man sieht: Stereotype bringen auch viel Positives hervor.
Freilich gab es noch zahllose andere „Begeisterungen“, insbesondere von den USA und Kanada, wo wir regelmäßig waren – unter anderem genährt durch meine Liebe zur Countrymusik. Und dann gab’s noch die Liebe zu Paris, genährt von meiner Begeisterung für den französischen Chanson. Man kann sagen: Gleich mehrere meiner Leidenschaften haben einen musikalischen Ursprung …
Doch zurück zu Russland. In der 11. Klasse hatte ich endlich die Gelegenheit, jedenfalls schon mal der Sprache näher zu kommen. Denn in Kooperation mit dem 2. Gymnasium in der Stadt wurde bei uns Russisch als 4. Fremdsprache angeboten – allerdings völlig freiwillig. Mein Wille aber war so frei. Leider musste ich das Fach dann doch abwählen, weil ich bereits übermäßig viele Stunden hatte – aber immerhin ein paar kleine Grundlagen waren gelegt, die ich in den folgenden Jahren mit Kursen an der Uni und russischen Freunden, die mir ein bisschen beibrachten, auch noch ausbaute.
Wohin der Wind mich trug
Als ich also 2019, 2020 begann, darüber nachzudenken, Deutschland zu verlassen, konnte ich jedenfalls schon die Grundlagen der Sprache. Auch das spielte bei der Auswahl des Auswanderungsziels eine wichtige Rolle; denn klar war: Das, was mich aus Deutschland forttrieb, kam von Westen … von gerade dort, wohin es mich in meiner Jugend mehr gezogen hatte als irgendwo andershin, ja, was mir damals schien wie das Paradies auf Erden. Wie oft hatte ich mir in den 90er Jahren gewünscht, wir würden in die USA oder jedenfalls nach Kanada auswandern…! Rückblickend muss ich sagen, mit dem berühmten Lied von Garth Brooks:
„Sometimes I thank God
for unanswered prayers
Remember when you’re talking
to the Man upstairs
that just because he doesn’t answer
doesn’t mean he don’t care
‚cause some of God’s greatest gifts
are unanswered prayers.“
(Garth Brooks, Unanswered Prayers)
Ja, genau so ist das. Denn nun kam der schlechte Wind ganz eindeutig aus westlicher, aus transatlantischer Richtung – und wehte mich … ostwärts.
Aber ich greife vor. 2017 reiste ich zum ersten Mal nach Moskau und sah endlich die berühmten Zwiebeltürmchen, auf deren Anblick live und in Farbe ich da schon 25 Jahre gewartet hatte. Doch in Russland war ich bereits zuvor, nämlich 2010. Damals reiste ich für einen Sprachkurs nach St. Petersburg.
Und dort wird unsere Erzählung beginnen …
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