NIZZA

Wenn ich ehrlich bin, erinnere ich mich kaum an den Film und seinen Inhalt – nur eine einzige Szene ist mir daraus im Gedächtnis erhalten geblieben. Die Szene, die zugleich Nizza ist; es existiert nichts jenseits von ihr, mit dem Erfassen der Buchstabenfolge N-I-Z-Z-A, mit ihrem Auf-den-Begriff-Bringen, ist es das erste Bild, das vor meinem geistigen Auge erscheint: Cary Grant, der auf dem Dach des legendären Hotel Negresco herumturnt.

Ich erinnere mich an die Palmen auf der Promenade des Anglais; daran, wie weiß die Gebäude in der Mittelmeersonne schienen… eigentlich erinnere ich mich weniger an Details, sondern an ein allgemeines Lebensgefühl, eine Atmosphäre.

Wie beinahe immer, brauchte es nicht mehr – aber auch nicht weniger –, um mich zu einer Reise zu motivieren.

Ich kam zuerst um das Jahr 2001 nach Nizza. Was sonst zog mich persönlich seinerzeit in den Süden der französischen Republik? Eine allgemeine Zuneigung zur französischen Geisteskultur, sicher, und der Umstand, dass eine von mir hochgeschätzte Person und so etwas wie eine Freundin, damals, einige Jahre zuvor an der Côte d’Azur gewesen war, in jenem berühmten Hotel auf dem Cap-Ferrat, dem Grand-Hôtel du Cap-Ferrat, und anschließend in der Camargue. 

 

© Ann-Kristin Iwersen, Nizza, Hotel Negresco 2018

Natürlich stand außer Frage, dass wir in diesem Hotel übernachteten, das für uns ebenso unerschwinglich war wie das Negresco. Auch in die Camargue schafften wir es aus Zeitgründen nicht.

Stattdessen hatten wir uns in Nizza sieben Nächte in ein Zwei-Sterne-Hotel in einer Seitenstraße in Bahnhofsnähe eingebucht; dort gab es einen Aufzug, der kaum groß genug war, um mich alleine zu befördern.

Am zweiten Tag versuchten die Reinigungskräfte unser selbst mitgebrachtes Shampoo und Duschgel zu stehlen. Vermutlich war es das Wertvollste, was es in unserem Zimmer gab. Auch diesen kläglichen Diebstahlversuch entdeckten wir jedoch noch rechtzeitig, sodass die Damen unsere Habseligkeiten wieder aus einem Eimer mit Spülwasser fischten, in dem diese notdürftig versteckt waren.

Ungefähr so war unser erster Eindruck auch von der gesamten Stadt. Die Promenade des Anglais, die Palmen, das Hotel Negresco… umwerfend schön! Bloß wurde das ästhetische Vergnügen des Promenierens auf der Promenade durch opulente und allgegenwärtige Hinterlassenschaften vierbeiniger Einwohner arg getrübt, da der Fokus mindestens eines Auges auf dem Hindernisparcours vor den Füßen bleiben musste, um unangenehmeren Überraschungsmomenten vorzubeugen.

© Ann-Kristin Iwersen, Nizza, Promenade des Anglais 2 2018

Doch auch jenseits dieser sportlichen Herausforderung: Es war doch schon ein Euphemismus, bei Nizza von einem „morbiden Charme“ zu sprechen. Von dem Glanz, den die Stadt – jedenfalls in ihrem Kern – einst gehabt haben musste, war buchstäblich nichts mehr übrig als die Fassade, und selbst jene war alles in allem ungepflegt und dreckig.

Traurig stimmte mich damals vor allem auch der alte Bahnhof der Stadt. An der Gare du Sud fuhr einst der Zug nach Digne-les-Bains (der bei Touristen beliebte „Train des Pignes“, zu Deutsch: „Pinienzapfenexpress“) in die Provence ab. Warum man beschloss, den obschon anachronistischen, aber charaktervollen Dampfzug von einem neuen Bahnhof fahren zu lassen, der nun wirklich jeden Stil und Charme vermissen lässt, weiß Gott allein. Die Gare de Nice CP ist eines jener zweifelhaften Meisterwerke der Architektur der frühen 1990er Jahre, die späteren Generationen vor allem ein Zeugnis des Abhandenkommens jeglicher ästhetischer Urteilskraft sein dürfte, jedenfalls insofern jene Urteilskraft sich jemals wieder hinreichend regeneriert, um eine solche Erkenntnis hervorzubringen.

In jedem Falle war von dem eleganten, neoklassizistischen Bau der Gare du Sud aus den 1890ern nur noch ein Haufen beschmierter Ruinen übrig. Ein Jammertal.
Und irgendwie galt das so auch für die Stadt als ganze. Doch: Ja! – Mit sehr viel Willen gelang es dann doch, in kurzen, glücklichen Momenten die Magie der imaginierten Vergangenheit Überhand über die herabgewirtschaftete Gegenwart gewinnen zu lassen…

© Ann-Kristin Iwersen, Nizza, Spiegelungen in Teegeschäft 2018

Alles in allem fand ich meinen Besuch Nizzas eher enttäuschend. Obschon gutes Einfalltor in die Erkundung der Côte d’Azur und der Provence, blieb mir Nizza selbst eher als Dreckloch in Erinnerung, dessen beste Zeiten lange zurücklagen. Die Stadt erinnerte mich an eine reiche alte Frau, bei der der allzu rote Lippenstift hässlich in den Oberlippenfalten sich verlief. Ich hatte keine großen Ambitionen, Nizza eine zweite Chance zu geben.

Dass es dazu überhaupt kam, war mindestens halb ein Zufall. 2018 wollte meine Mutter ihren Geburtstag gerne in Südfrankreich verbringen; und ich flog für eine Woche nach Nizza, um mit meinen Eltern dort zu feiern.

Wie sich die Stadt verändert hatte…! Es war eine Straßenbahn gebaut worden, die Straßen in der Innenstadt waren – so schien es jedenfalls – größtenteils neu asphaltiert worden; es war insgesamt ruhiger, aber vor allem sauberer.

Auch die Häuser waren nun, bis hin zum Bahnhofsviertel, in deutlich besserem Zustand, Slalom und Hürdensprünge auf der Promenade des Anglais waren auch deutlich weniger nötig geworden – irgendwie musste man es geschafft haben, der Radikalverkotung Einhalt zu gebieten.

Nun muss man vermutlich zugestehen, dass die positiven Entwicklungen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit mit zwei weniger wünschenswerten Tendenzen unserer Zeit in direktem Zusammenhang stehen: der Gentrifizierung der Innenstadt und einer vom Klimawahn inspirierten Politik.

© Ann-Kristin Iwersen, Nizza, Gare du Sud 2018

Dennoch – ich habe immer gefunden, dass Straßenbahnen eine wunderbare Idee sind. Und man muss sagen, dass jedenfalls 2018 die Stadt durch die Veränderungen wirklich einen Wandel zum Positiven durchlaufen hatte, anders als etwa Paris, wo die fortschreitende Gentrifizierung jeden Charme aus der Stadt hinweggebürstet und durch die unerträglichen Formen moderner, städtischer Bürgerlichkeit ersetzt hat. Und sogar hatte man in der Zwischenzeit die einstige Gare du Sud restauriert und in ein Kulturzentrum verwandelt.

Nicht, dass es nicht vielleicht – aus ästhetischen und romantischen Gründen wünschenswerter gewesen wäre, der Train des Pignes würde wieder von dort abfahren; doch immerhin: das Gebäude wurde gerettet. Wollen wir uns nicht also nicht beschweren, es hätte schlimmer kommen können.

Um jedenfalls noch etwas Negatives zu sagen: Ein Zeichen unserer Gegenwart waren auch die vielen Betonklötze auf der Promenade des Anglais, die ich zwar wahrgenommen, aber schlicht ignoriert hatte. Erst, als wir auf unserem Spaziergang an einem großangelegten und bewachten Monument vorbeikamen, dämmerte es mir. Mit dem Mahnmal konnte ich freilich zunächst ebenfalls nichts anfangen, bis ich die Schilder las: Es handelte sich um ein Mahnmal für die Opfer des Terroranschlags 2016, als ein Attentäter mit einem LKW in eine Menschenmenge fuhr und 86 Menschen tötete. Entsprechend mussten auch die Betonblöcke zum Schutz an der Promenade aufgestellt worden sein, wie man auch nun alle Weihnachtsmärkte in Deutschland – nach vergleichbaren, wenngleich weniger verheerenden Anschlägen – einfriedet wie einen Hochsicherheitstrakt.

© Ann-Kristin Iwersen, Nizza, Spiegelung einer Kirche 2018

So hinterlässt jede Zeit mit ihren jeweiligen als besonders prominent wahrgenommenen Gefahren auch ihre ganz eigentümlichen Spuren an einem Ort.

Doch hatten wir dieses Mal auch nicht so viel Pech mit unserer Unterkunft. Die Natürlich hatte es auch dieses Mal nicht zu einem Zimmer im Hotel Negresco gereicht – ich hoffe, ich kehre dorthin zurück, um dieses Ziel auch noch zu erreichen… und hoffentlich, bevor die Sache wieder eine negative Wendung genommen hat.